„Ich lasse mich nicht bodigen“

Von Lukas Eggenberg

Bereits als sechsjähriges Mädchen muss Margaretha Hirzel bei einer Pflegefamilie voll im Haushalt mitarbeiten. Oft wird sie mit dem Lederriemen geschlagen, später sexuell missbraucht.

Margaretha Hirzel legt immer mehr Fotos auf den Küchentisch. Ernst Hirzel steht etwas abseits von ihr neben dem Abwaschbecken und blättert ebenfalls in den Sichtmappen eines Fotoalbums. Einige der Fotos auf dem Küchentisch tragen Anmerkungen. „Wir waren Drillinge“, steht auf einem geschrieben, oder „1963 in München, mein Bruder“. Die beiden kommentieren die Bilder, „schau, so schön habe ich mal ausgesehen,“ sagt Margaretha und Ernst lacht herzhaft.

Viel zu lachen gab es für Margaretha zu Beginn ihres Lebens nicht. 1940 ist sie in Thun geboren, als Drilling, zusammen mit zwei Brüdern. Einer ihrer Brüder war bereits vor der Geburt tot. Der andere überlebte. Damit sie nicht als uneheliche Kinder zur Welt kamen, heirateten ihre Eltern zwei Tage vor ihrer Geburt im Spital. Geholfen hat es ihr nicht. Die ersten Lebensjahre verbrachte sie in einem Kinderheim im Kanton Bern. Als sechsjähriges Mädchen kam sie zu einer Pflegefamilie nach Lyss im Kanton Bern. Sie musste von Kindheit an viel im Haushalt arbeiten, häufig wurde sie beim kleinsten Fehler von ihren Pflegeeltern mit dem Lederriemen geschlagen.

Margaretha Hirzel legt ein Bild ihres Bruders neben eines von sich. Ihr Bruder ist Koch geworden, arbeitete lange in Deutschland. Er musste die Schweiz verlassen. „Er hat seine Militärsachen einfach auf den Bundesplatz gestellt und ist abgehauen,“ sagt Ernst mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Margaretha sieht ihren Bruder selten, vielleicht klappe es nächstes Jahr, beim 70 Geburtstag, sagt sie.

Margaretha hätte auch allen Grund gehabt, die Schweiz zu verlassen. Ihr Pflegevater missbrauchte sie mehrmals in der Woche. Margaretha ging damals in die fünfte und sechste Klasse. Zuerst noch in Niederrohrdorf, später in Dietikon. Dem Lehrer fiel auf, dass Margaretha häufig über Schmerzen im Genitalbereich klagte. Er brachte sie zum Arzt. Margaretha fasste Vertrauen zu ihrer Tante, und erzählte ihr vom Missbrauch. Die Tante ging zur Polizei und zeigte den Bauer an. Dieser wurde danach zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

„Ich lasse mich nicht bodigen“, sagt Margaretha und spricht damit wohl einen der Gründe an, weshalb sie trotz der schweren Kindheit ihr Leben meisterte. Sie zeigt auf das Foto ihres Bruders und sagt. „Er hat sich aufgegeben, lebt nur noch so in den Tag hinein“. Das kommt für Margaretha nicht in Frage. Sie wäscht und bügelt noch mit ihren bald 70 Jahren die Wäsche anderer Leute und schafft sich so einen Nebenverdienst zur kleinen Rente.

Hart zu Arbeiten hat sie als Verdingkind gelernt. Das kam ihr nach der Schule zugute, als sie im Service arbeitete und später die Wirteprüfung ablegte. In dieser Zeit heiratete sie ihren ersten Mann. Doch dieser war ein Spieler, verprasste ihr ganzes Geld. Margaretha liess sich scheiden. Vier Jahre lang war sie verheiratetet, in dieser Zeit bekam sie zwei Kinder und erlitt sechs Fehlgeburten. Später lernte sie ihren heutigen Mann Ernst kennen, der seine erste Frau an den Spätfolgen eines Unfalls verloren hatte. Zusammen bekamen sie nochmals zwei Kinder.

Margaretha sagt nicht ohne Stolz, „prächtige Kinder haben wir, jedes meistert sein Leben“. Das ist unschwer zu glauben, spürt man doch förmlich den unbändigen Lebenswille der Mutter. Und noch ein Kompliment kommt über die Lippen von Margaretha. „Dank der zurückhaltenden und liebevollen Art von Ernst, fühle ich mich in der Ehe wohl.“ Sonst wäre es für sie wohl nach all dem Missbrauch schwierig geworden, eine Partnerschaft zu leben.